Die Gaststube im Unterengadin

Also, es ist völlig subjektiv und auch ganz zufällig, aber bei meiner letzten Schweizreise überblendeten sich in unglaublicher Weise diese zwei Speisesäle aus der Jahrhundertwende: Der pavillonartig auskragende Saal im historischen Hotel Val Sinestra – der Name sagt schon alles, aber es spukt hier nicht – und die nicht anders als „classy“ zu bezeichnende riesige alte Dorfstube des famosen Hotels Piz Linard in Lavin. Es war echt eine Freude, hier zu sein.

Val Sinestra

Hotel Piz Linard, Lavin. Januar 2024

Architekturikonen müssen leiden (XXVI)

Triest/Italien: Die Risiera di San Sabba ist ein 1913 errichtetes Speichergebäude für Reis an der Grenze zu Muggia. Im Zweiten Weltkrieg war es unter Deutscher Besatzung ein Konzentrationslager für politische Gefangene, in dem über 2000 Menschen ermordet wurden. Das Lager diente auch als Transitstation für jüdische Menschen, die nach Auschwitz deportiert wurden. Der Gebäudekomplex wurde teilweise abgerissen und beherbergt heute ein Museum zur Lagergeschichte. Die eindrückliche Transformation zu einem architektonischen Mahnmal, das nichts vorgibt und alles offenlässt, stammt vom Triestiner Architekten Romano Boico, der das Gebäude in den 1970er-Jahren umbaute. (Fotos: Juli 2023)

Architekturikonen müssen leiden (XXV)

Fortezza Chaschinas: Schlicht „Fortezza“ heisst die Engadiner Burgruine in Susch, erbaut 1635 in den Auseinandersetzungen um die Rückeroberung des Veltlins nach Art des französischen Festungswesens. Ein Besuch dort Ende Februar zeigt: Moos und Flechten haben sich diesen historisch pittoresk dahinmodernden Steinen und Hölzern bemächtigt. Und: Auch das Unterengadin trocknet aus.

Die Aufklärungsstiege //

Die Stiege, die zur grossen Halle des Courtauld Institute of Art in London führt, heisst auch – alles versprechend – „Aufklärungsstiege“. Dies, weil sie von unten, vom Dunkel ins Licht nach oben führt, wo sich der Eingang zu The Great Room, einem Ausstellungsraum, in dem die jährlichen Sommershows der Royal Academy gezeigt wurden, befindet. William Chambers, der Architekt, entwarf eine enge Spirale, auf deren hohen Stufen die zeitgenössischen Besucher*innen stolperten und sich gegenseitig behinderten. So wurde der Traum von der Aufklärung und einer besseren Welt zum Lachschlager für die Massen. William Chambers feiert seinen 300. Geburtstag: Geboren am 23. Februar 1723!

Die wunderbare Anna Andreeva

Aus gegebenem Anlass: Mein Text, der auf Monopol Online am 17. November 2022 erschienen ist … hier …

Anna Andreeva: Der Look der „Soft Power“

Am 6. Juni 1988 erschien das us-amerikanische Nachrichtenmagazin Time Magazine mit einer Titelgeschichte über Raisa Gorbatschow, die Ehefrau des in diesem Jahr verstorbenen letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion. Neben einem Porträt, das Raisa strahlend lächelnd, aufgeweckt und mit modischem Pixiehaarschnitt zeigt, lautet die Überschrift der Story: Raisa – A new image for the Sowjet Union’s overworked, underappreciated women. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass Frau Gorbatschows Bekanntheit offenbar soweit vorausgesetzt werden konnte, dass allein ihr Vorname genügte, um sie dem amerikanischen Publikum zu präsentieren, sondern auch, dass „Raisa“ stellvertretend für die neue sowjetische Frau steht. Dies ist, so suggeriert das Foto, eine weltoffene Person, die das düstere, von grauen Politbonzen und undurchdringlichen Mienen geprägte Sowjetimperium durch Charme und Esprit ausgebremst hat. Bemerkenswert aber ist auch das Emblem unter ihrem Namen, eine grafische Fusion von Internationalem Frauenzeichen und dem kommunistischen Hammer und Sichel des Arbeiter- und Bauernstaats. Dies alles signalisiert Wandel und Aufbruch in eine neue Epoche – eine Epoche, die nur ein Jahr später mit dem Fall des Eisernen Vorhangs einen Kristallisationspunkt erreichen würde.

Zu dieser medialen Präsentation als neuem Gesicht einer Bewegung gehört indes auch ein besonderer Look, der mit einem eigenen Kleidungsstil verbunden ist: Raisa Gorbatschow trägt eine Bluse in apartem Streifenmuster in hellen, pastellenen Farben. Und dieser Look hat einen Namen: Anna Andreeva. Als Künstlerin einer staatlichen Textilfabrik entwarf sie im Laufe ihres Lebens hunderte von geometrischen Designs, die eine eigene Form von russischem Modernismus begründeten, etwas, das die staatlichen Eliten eigentlich durch die Etablierung des strikt figurativen Sozialistischen Realismus zu verhindern suchten. Raisa Gorbatschows und mit ihr viele weitere Berühmtheiten des öffentlichen Lebens in der Sowjetunion liebten aber gerade diese frischen Motive und den damit verbundenen Style.

Anna Andreeva (1917-2008) war aber nicht nur eine experimentelle Künstlerin, die beispielsweise den Zufall in ihre Designs einbaute, sondern auch eine bemerkenswerte, unabhängige Figur innerhalb der russischen Kulturwelt, da sie nie Mitglied der kommunistischen Partei war. Sie war die führende Entwerferin in einer der prestigeträchtigsten und stolzesten staatlichen Textilfabriken, der nach Rosa Luxemburg benannten Red Rose Silk Factory, wo sie Schals und Stoffe entwarf, gleichzeitig aber das rigide kontrollierende Politsystem ständig mit ihren autonomen Designentwürfen unterlief. Geboren wurde sie in eine aristokratische russische Familie in der Nähe von Tambov, rund 400 Kilometer südöstlich von Moskau, wo sie die Wirren der kommunistischen Revolution als kleines Kind erlebte. Sie erhielt ihre Ausbildung zur Textildesignerin in der berühmten Schule der Vchutemas, der radikalen Avantgarde-Kunstschule der frühen Sowjetzeit. Wurden Frauen am Bauhaus der Weimarer Republik – dem Pendant zu den Vchutemas – eben aus dem Grund, weil sie das falsche Geschlecht verkörperten, nicht zur Architekturausbildung zugelassen, so war die diesbezügliche Ablehnung, die Andreeva erfuhr, ihrer aristokratischen Herkunft geschuldet. Die Konsequenz war in beiden Fällen dieselbe: Frauen besuchten die Textilklassen ihrer avantgardistischen Schulen, weil Textil ein vermeintlich dem Weiblichen zugeordnetes künstlerisches Medium war. Anna Andreeva konnte für ihre Designs bereits auf eine abstrakte Tradition zurückgreifen, die bis zum Konstruktivismus zurückreichte: Varvara Stepanova, Liubov Popova oder Ludmila Mayakovskaya (die Schwester von Vladimir Mayakovski), führende Künstlerinnen Moskauer Textilfabriken, haben in den 1920er-Jahren begonnen, Stoffe mit abstrakten Mustern zu entwerfen. Diese Annäherung an die internationale Avantgarde hielt sich nur kurze Zeit: Die Verbannung jeglicher abstrakter Kunst wurde später mit dem Verweis auf deren „bourgeoise“ Herkunft begründet.

Als Anna Andreeva 1941 in die staatliche Red Rose Silk Factory aufgenommen wurde, hatte sie ihre Ausbildung beendet und war eine junge Künstlerin, imprägniert von modernistischen Ideen und immer auf der Suche nach einer wissenschaftlichen, beziehungsweise einer mathematischen Begründung ihrer Kunst. Sie interessierte sich für die Beziehungen zwischen dem ästhetischen Auftritt und dem materiellen Gefüge, die sich im Textilen aus dem repetitiven Entstehungsprozess des Rapports (der irreversiblen Wiederholung eines Musters) ergeben. Und so entwarf sie geometrische Kubenmuster, Stoffe mit verschiedenen Zahlenkombinationen oder von der damaligen Modewissenschaft Kybernetik inspirierte Ornamente, die algorithmische Strukturen zu zitieren scheinen. Sie erfand vorzeitig ein Design, das mit einem QR-Code gleichgesetzt werden kann, und zwar bereits im Jahr 1978. Wie ähnlich dieses Muster dem heutigen QR-Code tatsächlich ist, illustriert die Tatsache, dass es einem Besucher vor ein paar Jahren in der Moskauer Tretjakow Galerie nicht gelang, ein Bild davon mit dem Smartphone zu fixieren, da das Handy die Verwendung eines Q-R-Scanners forderte. Jedoch waren gerade solche Entwürfe enorm rechtfertigungsbedürftig bevor sie in die Produktion gingen. Inzwischen hatte sich der Imperativ der staatlichen Kunstdoktrin gedreht, er lautete nun Sozialistischer Realismus und Figuration war Gebot. Dass Anna Andreeva in dieser Situation überhaupt entwerferisch tätig sein konnte, war ihrer immensen Originalität geschuldet, die es ihr erlaubte, künstlerisch-revolutionäre Designs mit den offiziellen Maßstäben der proletarischen Eliten zu vereinbaren. …. Weiterlesen auf Monopol.de

Architekturikonen verdienen Respekt (IX)

Die Nationalbibliothek von Kosovo (1971-1982) von Andrija Mutnjaković ist einer der aktuellen Austragungsorte der Manifesta 14 in Prishtina. Ihr futuristischer Look basiert auf dem Metallgitter, das das Gebäude wie ein Schutzschild umgibt, ihre dutzenden Plexiglaskuppeln nehmen die Metallstruktur auf und verbreiten mildes Licht im Innern. Das Gebäude wird immer noch benutzt, vor allem auch als Kunstbibliothek . Aufgrund ihrer Geschichte als jugoslawisches Bauprojekt und des nicht bewältigten traumatischen Kriegs mit Serbien, ist und war die Bibliothek nicht unumstritten, da sie als Gebäude der serbischen Repräsentation in Kosovo wahrgenommen wird.

Architekturikonen müssen leiden (XXIV)

Die deprimierendste Baustelle der Welt: Das 170 Jahre alte Eckhaus im Wiener dritten Bezirk wird derzeit abgerissen, nachdem es jahrelang systematisch in den Leerstand getrieben wurde: Zuerst wurde das Dach abgerissen, danach die Wohnungen verkommen lassen. Ein beispielloses Versagen der Politik zugunsten Immobilienspekulation und zuungunsten eines fairen Mietrechts. Nicht nur, dass ein historisches, legendäres Gebäude mutwillig zerstört wurde, der Umgang mit den im Haus lebenden Mieter*innen mit gültigem Mietvertrat ist skandalös. #organisiertealtbauvernichtung
Hier geht’s zur weiteren Info WIENSCHAUEN // Info DER STANDARD

The Cosmic House!

Charles Jencks‘ Versuch, „Bedeutung in die Architektur zurück zu bringen“ findet sich in seinem Haus in Westlondon, das vor kurzem als Museum unter dem Namen „The Cosmic House“ eröffnet wurde und absolut sehenswert ist (ich konnte es im November besuchen): Ein gebautes Manifest des Post-Modernismus, ein Albtraum für manche, aber auch ein wunderbares Beispiel eines idiosynkratischen Architektenhauses. „Cosmic“, soviel ist klar, bedeutete für Jencks (1939-2019) alles, was im Modernismus verboten und verpönt war: Symbole, Metaphern, Anspielungen, persönliche Vorlieben, Ironie.

In a way we were trying to put meaning back into architecture because signification was the great taboo or the great undiscussible element – and for so many other reasons. Charles Jencks, ‚half modern, half something else‘ / Interview mit Martin Beck, 2003

Anders ausgedrückt, lernen wir von Anfang an die kulturellen Zeichen, die jeden städtischen Ort für eine soziale Gruppe, eine wirtschaftliche Klasse und reale, historische Menschen auszeichnen, während die modernen Architekten ihre Zeit damit verbringen, alle diese spezifischen Zeichen zu verlernen, bei dem Versuch, für den Universalmenschen oder für den Mythos vom modernen Menschen zu planen. Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart, 1980 (Zweite deutsche Auflage)

Der größte Fehler, den die Architekten in diesem Jahrhundert begangen haben, ist vielleicht der, überhaupt geboren zu sein. (Ebd.)

Architekturikonen müssen leiden (XXIII)

Villa Rotonda, by Andrea Palladio bei Vicenza/Veneto // The Ideal Villa, so nannte sie Colin Rowe, und da hat er irgendwie recht: denn die „Villa“ ist nicht so sehr ein Landhaus, in dem die „einfachen“ Dinge des Lebens gepflegt werden, als ein repräsentatives Gebäude, das auf Blickfang aus ist. Ein griechischer Tempel mit vier gleichen Seiten/Fassaden inmitten der bukolischen italienischen Landschaft. Entworfen und erbaut von Andrea Palladio, dem Renaissance-Architekten und grossartigen Erneuerer antiker und mittelalterlicher Baustrukturen um 1570. Selbst Goethe ist der Widerspruch zwischen (Selbst)-Anspruch und Plan aufgefallen:

Der Raum, den die Treppen und Vorhallen einnehmen, ist viel größer als der des Hauses selbst; denn jede einzelne Seite würde als Ansicht eines Tempels befriedigen. Und: Vielleicht hat die Baukunst ihren Luxus niemals höher getrieben.

Bei meinem Besuch Anfang August 2021 wurde die Villa Rotonda renoviert. Aber: Wenn es eine Architekturikone gibt, dann diese!